Gastbeitrag von Jennie Appel
Ohne tief in die Erde reichende Wurzeln kann ein Baum nicht wachsen. Er hat nicht genug Halt, um sich weit in den Himmel zu strecken. Es braucht sowohl Tiefe wie Weite. Ähnlich ist es mit uns Menschen – wenn wir wachsen wollen, ist es wichtig, beide Richtungen zu bedenken. Die Wirkung reicht weit darüber hinaus, denn wie die Wurzeln eines Baumes genährt sind, wird für den ganzen Wald offenbar.
Kulturelle Ursprünge
Es gab eine Zeit, in der es auch im mitteleuropäischen Raum selbstverständlich war, alles in der Natur als beseelt zu betrachten, sich mit Tier- und Pflanzengeistern in Verbindung zu setzen, Jahreskreisfeste zu feiern, Bräuche und Riten hochzuhalten und sich im stillen Zwiegespräch mit dem Heiligen auszutauschen. Man sprach mit seiner Kuh, mit den Ähren auf dem Feld, mit den Elementen, die jede Pflanze zum Wachstum benötigte, und mit den raunenden Fichten im Wald. Die Menschen ehrten die natürlichen Kräfte des Lebens mit Gebeten und Gesang, Musik und kleinen Opfergaben. Das Leben war reich und bunt, und jedes Kind wusste: Alles hat eine Seele, und daher kannst du auch mit allem Kontakt aufnehmen, was eine Seele hat.
Ein solches Weltbild kennen wir heute nur noch von sogenannten Naturvölkern, es scheint kaum etwas mit uns zu tun zu haben. Und doch ist diese ursprüngliche Sichtweise einer schamanischen Kultur unser Ursprung. Genau hier liegen unsere Wurzeln verborgen, nach denen sich heute so viele Menschen sehnen – die Wurzeln eines natürlichen Lebens und der innigen Verbundenheit mit der Natur, die uns in unserer entfremdeten und technokratischen Gesellschaft abhandengekommen zu sein scheinen.
Halt haben im Leben
Vielleicht geht es Ihnen ähnlich. Vielleicht wünschen auch Sie sich einen Zugang zur Natur und zu sich selbst, der Sie wieder ganz im Hier und Jetzt ankommen lässt, der Sie Ihr volles Potenzial im Einklang mit Ihrer Seele leben lässt. Vielleicht spüren Sie instinktiv, dass Ihnen der Zugang zu Ihren Wurzeln ermöglichen wird, sich auf dieser Welt mehr zu Hause zu fühlen, Ihren Platz einzunehmen und in Ihre volle Kraft hineinzuwachsen.
Wie ein Baum, der hoch in den Himmel wachsen will, brauchen auch Sie tiefe Wurzeln, um in Ihrem Leben Halt zu haben. Diese Wurzeln können Sie in einer schamanisch geprägten Spiritualität entdecken: Hier werden Sie Ihren Vorfahren aus längst vergangenen Zeiten begegnen, deren Sicht der Dinge kennenlernen und das für Sie Gute und Brauchbare nach eingehender Prüfung in Ihren Alltag übernehmen können. Ebenso werden Sie die Verbindung zur Welt und ihren zahlreichen Wesen intensiver spüren. Und vor allem werden Sie sich selbst mit jedem Ritual, mit jeder Meditation, mit jeder schamanischen Reise besser kennenlernen. Sie werden wissen, wer Sie wirklich sind, und von diesem sicheren Standort aus die Welt in all ihren Facetten freudvoll erforschen können. Der Schamanismus ist keine exotische Angelegenheit. Es braucht fürs Erste nur einen Perspektivwechsel. Sie können hier und jetzt damit beginnen.
Übung: Still die Welt wahrnehmen
Suchen Sie sich einen ungestörten Platz in der Natur. Das kann eine abseits gelegene Wiese sein, eine Waldlichtung oder auch einfach eine Parkbank.
▪ Setzen Sie sich bequem, aber möglichst aufrecht hin und schließen Sie sanft die Augen. Entspannen Sie bewusst Ihren Körper, lassen Sie etwaige Anspannungen in Schultern, Armen und Beinen, Rücken und Becken nach und nach los. Entspannen Sie auch Ihr Gesicht, schenken Sie sich selbst und der Welt ein Lächeln!
▪ Beginnen Sie dann, auf Ihren Atem zu achten. Beobachten Sie, wie die Luft in Ihre Nase strömt, durch Ihre Kehle und Ihren Hals, in Ihre Brust und Ihren Bauch. Fühlen Sie, wie sich Brust und Bauch heben und beim Ausatmen wieder senken. Verbringen Sie einige Augenblicke mit der Beobachtung Ihres Atems und entspannen Sie sich immer mehr. Gedanken, die auftauchen, können einfach weiterziehen – es ist nicht nötig, dass Sie sich mit ihnen weiter beschäftigen.
▪ Geräusche von außen – der Wind in den Bäumen, der Gesang der Vögel, vielleicht das Bellen eines Hundes weit entfernt oder das Summen von Insekten – können Sie einfach wahrnehmen, ohne sie gedanklich zu identifizieren. Lauschen Sie ganz einfach! Lassen Sie Ihren Geist still sein und einfach in der bloßen Wahrnehmung der Phänomene ruhen!
▪ Stellen Sie sich dann vor, wie einatmend der Raum in Ihnen weiter wird und ausatmend Altes und nicht mehr Benötigtes aus Ihnen weicht. Mit jedem Einatmen öffnen Sie sich der Welt, der Wahrnehmung dessen, was Sie umgibt und durchdringt. Mit jedem Ausatmen lassen Sie alte Vorstellungen, Glaubenssätze und Überzeugungen los.
Die erste Spiritualität
Die Menschheit hat ihre Ursprünge im afrikanischen Raum. Dort lebten wir, jagten, sammelten und machten uns auf, dem Horizont entgegenzulaufen. Wir folgten den Tierherden, lebten in inniger Beziehung zur Natur und erhielten von ihr alles, was wir zum Leben brauchten. Wir waren gleichsam neugierige Kinder und wollten wissen, wie es in der Ferne aussieht, wie dieser Berg beschaffen war, wohin jener Fluss führte. Unsere nackten Füße berührten die Erde, brachten uns zunächst nach Norden, dann nach Westen und schließlich nach Osten. Wir konnten uns anpassen, konnten überall leben und überall zu Hause sein.
Gleichzeitig überlegten wir, was das große Gewölbe über uns sei, das tagsüber vom Licht der Sonne erfüllt war und nachts von Myriaden Sternen verziert wurde. Wir fragten uns, was nach dem Tod mit uns und was mit den Seelen der Tiere, die wir töteten, geschehen würde. Wir sahen riesige Tierherden, erlebten Gewitter und Stürme, das Meer und die Wüste, spürten den Wind und den Schnee, Feuer und Eis. Überall, so wurde uns schnell klar, war das Leben gegenwärtig. Alles war lebendig, alles hatte eine Seele, alles war beseelt. Und aus dieser Erkenntnis, diesem Ahnen der Zusammenhänge der Welt erwuchs die erste Form von Spiritualität: Der Schamanismus war geboren, und er verbreitete sich in unterschiedlichen Ausprägungen überall dort, wo Menschen wohnten.
Dieser spirituelle Weg war lange Zeit der einzige Weg, den Menschen kannten, bis sich dann viel später andere – spirituelle und religiöse – Wege entwickelten, die, so sinnvoll manches war, was sie lehrten, doch oftmals den Kontakt zur Welt der Natur verloren.
Während schamanische Strukturen in manchen Teilen der Welt verschwanden und durch neue spirituelle Vorstellungen abgelöst wurden, hielten sie sich in anderen Teilen der Welt – wenn auch manchmal versteckt in Religionen – bis auf den heutigen Tag. Auch in Nord- und Mitteleuropa finden sich noch schamanische Vorstellungen und Praktiken in vorchristlichen Traditionen und im Volksbrauchtum. Als das Christentum sich durchsetzte und die alten Religionen verdrängte, blieben manche schamanischen Überlieferungen erhalten, beispielsweise bei Kräuterkundigen und Hebammen und überhaupt in dem, was von der Kirche gern als „Aberglaube“ bezeichnet wird.
"Nur wer wirklich in Kontakt ist mit den eigenen Wurzeln, kann Identität entwickeln und dann viel besser andere Kulturen verstehen."
Doña Eufemia Cholac Chicol, Maya-Priesterin aus Guatemala
Ganz zur Welt gehören
Ehrfurcht vor den Kräften der Natur war all diesen alten Wegen eigen, und ich bin davon überzeugt, dass diese Ehrfurcht heute wieder gebraucht wird. Zum einen, um der Zerstörung dieser Welt entgegenzuwirken, zum anderen aber auch, um den Menschen an seiner Seele gesunden zu lassen, sodass er sich wieder dieser Welt zugehörig fühlt und ganz und heil werden kann. Denn dass Menschen sich heute als abgetrennt von der Welt erfahren, sich als vereinsamt erleben, während sie gleichzeitig die Welt und die menschliche Gesellschaft als etwas Bedrohliches wahrnehmen, macht im wahrsten Sinne des Wortes krank.
Übung: Spürbar Teil von allem sein
Es gibt eine Sache, die immer bei Ihnen ist und die Sie mit allen Lebewesen verbindet: Ihr Atem. Sie atmen frische Luft ein, die von den Meeren und den Bäumen gereinigt wurde – Luft, die schon durch Milliarden menschliche und tierische Lungen geatmet wurde und immer wieder geatmet werden wird. So sind Sie Teil eines riesigen Kreislaufs.
Eine sehr gute Übung, sich dies bewusst zu machen, ist einfaches Atmen. Wählen Sie für diese Übung einen Ort, an dem Sie sich wohlfühlen. Das kann Ihr Wohnzimmer genauso gut wie ein Platz in der Natur sein.
▪ Setzen Sie sich möglichst aufrecht hin. Atmen Sie ein und aus.
▪ Beobachten Sie Ihren Atem eine Weile
▪ Beginnen Sie dann zu visualisieren, dass Sie sich die Luft mit allen Wesen teilen und so mit der ganzen Welt verbunden sind.
Diese Übung können Sie machen, solange und sooft Sie möchten.
Auszug aus dem Buch „Wer wachsen will, braucht starke Wurzeln“, erschienen bei GU 2016
Jennie Appel
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