Yin Yoga erlebt in Deutschland derzeit einen Boom. Woher kommt die neue Lust an der Langsamkeit?
Ich glaube, dass wir eine sehr leistungsorientierte Nation sind. Das lässt sich nicht nur im Job, sondern häufig auch im Alltag und teilweise sogar in der Yogapraxis wiederfinden. In den letzten Jahren waren die unterschiedlichsten aktiven Yogastile sehr präsent in den Yogastudios. Viele Praktizierende, die schon länger dabei sind, merken irgendwann, dass die alleinige aktive Praxis nicht mehr wirklich rund ist und ein wichtiger Baustein fehlt. Dieses fehlende Puzzlestück kann Yin Yoga bieten, da es die kräftigende Yogapraxis durch seine Passivität und Sanftheit einfach wunderbar ergänzt und harmonisiert. Auch habe ich in meinen Ausbildungen immer wieder Teilnehmer, die sagen, dass sie langsam zu alt werden für die aktiven Stile und nun eher die ruhigeren Herangehensweisen suchen.
Neben Yin Yoga hat die Yogawelt die Blackroll entdeckt. Die Faszienrolle hilft in der Selbstmassage verklebtes Gewebe zu lösen. Anstelle der Rolle empfiehlst Du in Deinem neuen Buch "Faszien-Massage" jedoch den Einsatz von Massagebällen. Was ist der Vorteil und wie genau funktioniert das in der Praxis?
Ich arbeite persönlich und auch in meinen Kursen sowohl mit der Rolle als auch mit Bällen, da beide Hilfsmittel unterschiedliche Vorteile aufweisen. Mit der Rolle kann man schön flächig arbeiten, was ich zum Beispiel für die Beine sehr vorteilhaft finde. Im Oberkörper arbeite ich jedoch nicht so gern mit der Rolle, da mag ich die Bälle deutlich lieber. Durch den Einsatz der Bälle kann man ganz gezielt und punktuell arbeiten und man kann sehr gut um die Wirbelsäule herum arbeiten. Gerade dort ist der Einsatz der Rolle für viele Praktizierende eher unangenehm. Meiner Empfindung nach wirken die Bälle auch tiefer im Gewebe als die Rollen.
Was waren Deine persönlichen Gründe, Dich von Stress und Hektik zu verabschieden, Dein eigenes Leben zu verlangsamen und Yin Yoga zu üben?
Auch ich war ein Mensch, der sich sehr stark im Yang wiedergefunden hat. Ich habe früher über viele Jahre exzessiv Kampfsport ausgeübt. Als ich meinen Körper nahezu ausgelaugt habe und danach auf Yoga gestoßen bin, habe ich täglich Yogakurse gegeben, die wiederum alle sehr yanglastig waren. Nach einigen Jahren stand ich abends vor meinem Kurs und dachte mir: „Schon wieder Power Yoga, ich habe doch selber gar keine Power mehr!“ und fühlte mich dabei einfach nur frustriert und war den Tränen nahe. Das war ein Schlüsselerlebnis für mich und ich begann umzudenken. Mir ist es wichtig, immer möglichst authentisch zu sein und entsprechend auch zu unterrichten. Ausschließlich aktive Yogastile zu unterrichten, hat sich für mich einfach nicht mehr gut und richtig angefühlt. Meine Yogapraxis hat sich durch Yin Yoga auf einmal so unglaublich friedlich und erfüllend angefühlt, das war vorher leider nicht immer so.
Ein Zitat, das für Dich persönlich große Bedeutung hat, stammt von Buddha „Lerne loszulassen. Das ist der Schlüssel zum Glück“. Was hindert Menschen daran, loszulassen? Und wie können wir das Glück des Loslassens erfahren?
Es gibt den schönen Spruch: „Der Nicht-Meditierende fügt sich selber mehr Wunden zu als der Meditierende.“ Meiner Interpretation nach meint dieser Satz, dass wir es uns durch unsere eigenen Gedanken häufig selber sehr schwer machen. Wie oft haben wir uns schon Sorgen gemacht über Dinge, die nie eingetreten sind? Wie oft haben wir schon festgehalten an der Vergangenheit und uns damit selber den Raum für Wachstum im Jetzt genommen? Wie oft sind wir fokussiert auf die Zukunft, weil dann bestimmt alles besser wird? Je mehr Gepäck wir mit uns herumtragen, desto mehr Leid fügen wir uns selber zu. Wenn zum Beispiel jemand „Nach-Tragend“ ist und einer anderen Person nicht verzeiht, was sie vielleicht vor vielen Jahren einmal getan hat, dann bleibt dieser Ballast doch einzig und allein bei uns. Die andere Person kann sich möglicherweise gar nicht mehr daran erinnern oder vielleicht interessiert sie sich auch gar nicht für unseren langgehegten Groll. Es könnte uns selber sehr viel besser gehen, wenn wir die Dinge loslassen, die wir sowieso nicht (mehr) ändern können. Ich glaube, dass das Loslassen ein Lebensthema für viele Menschen ist. Als im letzten Jahr ganz unerwartet und plötzlich mein Papa gestorben ist, ist mir bewusst geworden, wie wenig ich trotz meiner jahrelangen Praxis erst gelernt habe. Es war undenkbar schwer, diesen geliebten Menschen loszulassen, der für mich so wichtig war. Auf einmal hatte ich ganz viel Angst, dass den restlichen Familienmitgliedern auch etwas zustoßen könnte. Ich arbeite immer noch an diesem Prozess und merke, wie es mir inzwischen immer besser gelingt, damit umzugehen, indem ich mir darüber bewusst werde, was sich gerade in mir verselbständigt. Ich versuche dann, diese Emotionen anzunehmen und ihnen den nötigen Raum zu geben. Diese Akzeptanz ist unumgänglich, wenn wir loslassen möchten.
Wie funktioniert das Loslassen konkret in der Yogapraxis?
Ich fand es richtig beglückend, mich von angestrebten Yogapositionen zu verabschieden, die für mich anatomisch einfach nicht machbar waren und mir lediglich Schmerzen bereitet haben. Das schätze ich auch so sehr an Yin Yoga: es ist absolut egal, wie die Position aussieht, es geht vielmehr darum zu spüren, wie sie sich anfühlt. Das Loslassen der Ausrichtungsprinzipien, die einfach nicht für alle Menschen gleich sind und stattdessen den inneren Yogalehrer entscheiden zu lassen, kann sehr befreiend sein und der eigenen Yogapraxis eine ganz neue Richtung geben.
Praktizierst Du dieses „Spüren statt Denken“ auch jenseits der Matte?
Ja, definitiv. Ich bin eine Fische-Geborene und hatte schon immer eine stark ausgeprägte Intuition. Ich verlasse mich vertrauensvoll auf meine innere Stimme und auf mein Bauchgefühl. Natürlich spielt auch der Verstand eine große Rolle und er treibt gerne seine Spielchen mit der Intuition. Ich habe jedoch gelernt, die beiden voneinander zu unterscheiden und im Endeffekt entscheide ich mich dann doch immer wieder für die Intuition. Deshalb fühle ich mich wahrscheinlich auch im Yin Yoga so sehr „zu Hause“.
Du hast privat gerade einen Umzug hinter Dir. Was hilft Dir in Deinem Leben und in Deinem Alltag – neben Yin Yoga – Dich zu erden und zu verwurzeln? Hast Du ein oder zwei praktische Tipps für meine Leser?
Der Umzug war sehr stressig und anstrengend. Es wäre weit hergeholt, zu behaupten, dass ich in dieser Zeit immer in meiner Mitte gewesen wäre. Das lag auch an meinem eigenen Perfektionsanspruch. Ich wollte möglichst schnell wieder Ordnung im neuen Zuhause haben. Und vor lauter Auspacken und Einräumen habe ich meine eigene Praxis zugegebenermaßen vernachlässigt. Ich habe zwar versucht, täglich zu praktizieren, aber es war wesentlich kürzer und weniger intensiv als sonst. Der Kopf war einfach zu sehr mit den neuen Lebensumständen beschäftigt und es fiel mir schwer, zur Ruhe zu kommen. Ich habe dann aber doch recht schnell gemerkt, was mir gefehlt hat, denn wenn ich abends erschöpft im Bett gelegen habe, war zum Beispiel meine Trauer wieder sehr präsent. Dadurch wurde mir klar, dass es dringend an der Zeit war, die Prioritäten wieder zu verändern und die unausgepackten Kartons auch mal warten zu lassen. Ich denke, jeder hat bestimmt solche Zeiten im Leben. Umso wichtiger finde ich es dann, zumindest hinterher wieder gut für sich zu sorgen. Ich bin ein Familienmensch. Ich verbringe sehr gerne Zeit mit meiner Familie und empfinde das als sehr erdend. Neben Yin Yoga ist auch die Ernährung ein Herzensthema für mich. Ich koche und backe leidenschaftlich gerne, das erdet mich immer wieder ganz wunderbar. Und auch die Natur spielt für mich eine große Rolle. Rauszugehen und mich mit der Kraft der Natur zu verbinden ist eine wahre Quelle der Erdung und Verwurzelung für mich. Meditation in der Natur hat meiner Meinung nach eine ganz besondere Qualität.
Am 9. Oktober erscheint Stefanie Arends neues Buch "Faszien Massage" im Schirner Verlag. Hier findest Du eine kostenlose Leseprobe.
Über Stefanie
Stefanie Arend hat verschiedene Ausbildungen in unterschiedlichen Yoga-Richtungen gemacht, bis sie nach Jahren des Ausprobierens im Yin Yoga Teacher Training von Paul und Suzee Grilley endlich das gefunden hat, was sie so lange gesucht hat. Diese Herangehensweise an Yoga hat ihr einen tiefen inneren Frieden und ein Gefühl des Ankommens geschenkt. Im Jahr 2007 hat sie ihr eigenes Yogastudio eröffnet, in dem sie seitdem unterrichtet. Zudem gibt sie hier individuelle Ernährungsberatungen. Seit 2012 bildet sie Interessierte im Yin Yoga aus. Sie empfindet das Weitergeben von Yoga ebenso wie das weitere Erlernen dieser wunderbaren Tradition als große Erfüllung in ihrem Leben und ist sehr dankbar dafür, dass ihr Weg sie hierhin geführt hat.
Sie ist Autorin von diversen Yogabüchern und DVDs. Ihr erstes Buch »Yin Yoga - Der sanfte Weg zur inneren Mitte« ist im Jahr 2011 von »Yogaguide« zum »Besten Yogabuch des Jahres« gewählt worden. Die positive Resonanz auf ihr erstes Werk hat sie tief berührt und ihr ein wichtiges Zeichen gegeben, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Mehr Infos zu ihrer Arbeit, Kursen und Yin Yoga-Ausbildungen gibt es unter www.yinyoga.de
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